Üeber das Zoomen oder: was vor den Schlussstrich gehört

Gibt es Kriterien für ein gelungenes Stück? Wie entscheidet sich, wo der Schlussstrich unter eine Musik gesetzt werden kann, was muss sich davor ereignet haben? Welches sind übergeordnete Bedingungen, die – ohne allzusehr verallgemeinern zu müssen – sich in einem guten und bewegenden Stück auf irgendeine Weise wiederfinden? Ist es überhaupt denkbar, von einem Urbild auszugehen, das sich in den verschiedensten Ausformungen zeigt?

Möglicherweise besteht das Gemeinsame in einer wahrnehmungsmässig nachvollziehbaren Konkretisierung, die sich entweder an der Veränderung des musikalischen Materials oder einer veränderten Wahrnehmung der Rezipierenden aufzeigen lässt. Für das Komponieren bedeutet das die Verdichtung eines einmal Erreichten oder Gesetzten, meint ein zunehmendes Konkretisieren eines Ausgangspunktes, eine Fokussierung.

Fokussierungen können sich auf alle möglichen Arten ereignen: zuerst auf zeitlicher Ebene bsw. in Form einer Tempobeschleunigung. Diese kann auf ein Ziel hinführen, womit sich eine dramatische Qualität ins Spiel bringt. Die Tempobeschleunigung kann aber auch nur für sich selber stehen, d.h. dass während der Beschleunigung die Hörenden einen Prozess mitvollziehen, der als solcher erreicht werden will und damit das Entscheidende leistet.

Die Fokussierungsmöglichkeiten ergeben sich aus der Wahl der verwendeten kompositorischen Verfahren, resp. prägen diese erst recht eigentlich aus. Die Verfahren bringen durch das Schaffen eines spezifischen Kontextes Charakteristisches zum Leuchten. Entsprechend sind unzählige Arten der Fokussierung denkbar: Möglichkeiten in den Bereichen von Reduktion, Kombination oder Multiplikation, der gegenseitigen Beleuchtung, des Kontrastes, des Herauswachsens eines Materialkerns aus Vorhergehendem etc. Darüber hinaus gibt es unzählige weitere Fokussierungsmöglichkeiten: auf der inhaltlichen Ebene der Musik, der Gestik, der Bewegung, der Harmonik, der Melodik, der Dynamik, etc. etc.

Musik, neuste wie älteste, lebt von solchen Prozessen und bildet nicht zuletzt darin unzählige analog verlaufende Naturerscheinungen und Erfahrungen ab. Ich habe dieses übergeordnete Verfahren Komponieren mit Vektoren genannt, da durch eine einmal erreichte oder gesetzte Ausgangsposition ein Energiezentrum geschaffen wird, das wie in einem Überdruck – Unterdruck – Verhältnis quasi seinen energetischen Gegenpol herausfordert. Dieses Arbeiten mit Vektoren hat eine Richtungstendenz in der Musik zur Folge: eine Art Strudel oder Zoomwirkung stellt sich ein.

Das Charakteristische des Arbeitens mit Vektoren oder, wie ich es heute nenne, des Zoomens (als Fussnote: ‚Zoomen‘ meint als übergeordneter Begriff einen Vorgang, durch den ein angepeilter Gegenstand objekthafter oder inhaltlicher Natur ins Zentrum des Interesses tritt, sei es durch ein Herantasten, Aus-den-Augen-Verlieren oder durch das Beleuchten seines Kontextes), funktioniert im Gegensatz zur alten Sonatenhauptsatzform nicht als ein Gefäss, in dem Energien gegenseitig geordnet werden müssen, sondern vielmehr wie ein Lenkungssystem mit allerdings der gleichen Aufgabe. Möglichkeiten der Anordnung dieser Lenkungsarme gibt es unzählige. Der Verlauf muss durchaus nicht linear und kann vieldimensional angesetzt sein. Jedes Stück, jedes Teilstück, jeder Satz, jede Satztechnik, jede übergeordnete Form, ja sogar Werkzyklen etc. können als Abbild des Zoomens ausgebildet und ineinander verschachtelt in diesem (energetischen) Schema gelesen werden (siehe Beispiele).

Was macht das Zoomen aus? Wodurch charakterisiert es sich?

Um fokussieren zu können, bedarf es eines Ausgangs. Das ist so lapidar nicht, wie es klingen mag. Ein Ausgang ist dann erreicht, wenn die Musik zu sprechen beginnt. Sprechen ist hier nicht im Sinne einer Unterhaltung gemeint, sondern im Sinne eines das Gemeinte wirklich Benennende. Hermann Burger, der eindrückliche CH-Schriftsteller, macht auf den Unterschied zwischen dem französischen ‚langue‘ und ‘parole‘ aufmerksam: „dann aus der langue eine parole machen, vom unendlichen Angebot dies auswählen, jenes weglassen“. Bis der Boden unter den Füssen so fest geworden ist, dass darauf gestanden werden kann – an diesen Punkt ist erst zu gelangen. Das Erreichen festen Bodens kann als die einfachste Zoom-Form verstanden werden. Es meint, soviel Gras auf dem Feld geschnitten, getrocknet und noch trocken unter Dach gebracht zu haben, dass der einsetzende Regen dem Heu nicht mehr viel antun kann. Das Futter ist bereit.

Hier lauern Gefahren: je sicherer der Zugriff, je bestechender das kompositorische Handwerk, um so grösser die Gefahr, den sicheren Boden vorschnell erreichen zu wollen. Wo das Risiko fehlt, das Wagnis einer stets neuerlichen Konfrontation gerade seitens des komponierenden Subjekts, verblasst die schon einmal gefundene Lösung schnell. Konfrontation heisst, den Ausgang noch nicht wirklich zu kennen, die Lage nicht hundertprozentig abschätzen zu können. Eine Gratwanderung, ob die Zeit noch reicht, ob der sichere Boden auch wirklich trägt, macht die Arbeit halsbrecherischer, wagemutiger, experimenteller und belohnt nicht nur die HörerInnen mit der Erfahrung, den Gipfel selber beklommen zu haben. Es ist darüber hinaus Zeichen eines neuerlichen Formens einer Fokussierung. Schön ist der von der Sonne eingebrannte Schweiss auf dem Gipfel!

In einem zweiten Sinn aber meint das Zoomen ein Phänomen, das mit der Wahrnehmung zu tun hat. Ziel ist es, dass während der Dauer oder bis zum Erreichen des trockenen Bodens unter den Füssen sich wahrnehmungsmässig eine Schärfung vollzieht, die mich als HörerIn beteiligt macht, weckt, herausfordert. Also zeichnet die Musik, mindestens für die Dauer eines Abschnitts, eine Richtung, ein Vorher und ein Nachher, eine Verlaufskurve, einen Energieverlauf. Dieser wiederum kann mit einem zweiten kombiniert werden, einem dritten usw.

Dabei kann es von Vorteil sein, eine zweite Fokussierung mit einem zweiten Material anzusetzen, es kann von Vorteil sein, das gleiche Material ein zweites Mal zu bemühen. Nicht die Materialwahl ist entscheidend, sondern ob die ‚Energiebilanz‘ der beiden Teile miteinander in ein Verhältnis tritt, zu einem übergeordneten und damit stimmigen Ganzen, sich den Bedingungen der Komposition entsprechenden Gesamtbild verdichtet.

Weitere Gefahren lauern nicht zuletzt darin, den Abtastprozess des Ohrs beim Hören der Musik nicht richtig abschätzen zu können. Allzuviele simultan ablaufende oder zumindest übereinander gelegte Abläufe können es verunmöglichen, den einzelnen Prozess wirklich mitzuvollziehen. Damit reduziert sich die Energiezufuhr, die Musik schwächt sich, statt sich zu kräftigen. Ebenso schwächt eine sorglose Setzung nur weniger Prozesse während zu grosser Dauer, weil sich leicht eine Informationsarmut und damit Langeweile einstellt. Entscheidend für die formale Generierung wird somit die unprätentiöse Feststellung, dass ihre Teile sich gegenseitig kräftigen müssen. Offensichtlich erweist sich das Abschätzen solcher Gewichtungen als eine zentrale Aufgabe beim Komponieren.

Hier wird klar, dass unendliche Möglichkeiten von Zoom – Erformungen und Grossformen denkbar sind. Es kann erforderlich sein, zehnmal zu konkretisieren, ein ander mal reicht eine einzige Ausformung zur Gewinnung festen Bodens. Weder geht es um das Material, noch um die Quantität der Fokussierungsschritte. Allein durch das Verhältnis zwischen den Bedingungen eines Werks und der Idee des Stücks ergeben sich Möglichkeiten, die in sich eine Richtung tragen, einen Ausgang zu schaffen. Ist der Ausgang erst mal geschafft, singts, stellt sich eine Transzendenz ein und die Musik beginnt zu klingen.

Damit nähern wir uns der Ausgangsfrage. Möglicherweise gibt der betriebene Aufwand in einem Stück, den eben beschriebenen Punkt erreicht zu haben, die Legitimation für den Schlussstrich, vielleicht ist eine neuerliche Klärung (in einem verwandten, anderen Parameter) vonnöten. Je differenzierter das komponierende Subjekt diese Frage zu beurteilen weiss, umso phantasievoller kann die Schlussstrichsetzung sein. Unnötig anzufügen, dass darüber hinaus einer porösen Musik mehr Beachtung zukommt als einer gesättigten, offene Formen geneigter machen und Vitalität in ihren Bann zieht, unabhängig davon ob sie sublimiert als intime Musik erscheint oder sich als kraftvolle Ausgeburt zeigt.

Felix Baumann, Herbst 02

Beispiele:
Der Partiturausschnitt aus nah / hautnah für Sprechchor, Solosopran, -violoncello und Ensemble nach Texten von Sarah Kirsch, Sappho, Michel Serres, Stefan Buri und Hans Magnus Enzensberger veranschaulicht ein Zoomen auf zeitlicher Ebene. Die Dauern der Takte nehmen in einem fünffachen Ansetzen konstant ab (in Sechzehnteln: 9-7-6, 7-6-4, 6-4-3, 4-3-2, 3-2-2 etc.), die schwere Eins zu Taktbeginn tritt damit in den Vordergrund. Dieser Fokussierungsprozess wird im weiteren Verlauf zum Boden einer sich daraus entwickelnden grösserangelegten gegenläufigen Multiplikation der Dauernlängen. Eine allmähliche Überblendung des unisono und mit elementaren Lauten klanglich auffällig geführten Sprechchors mit anfänglich zeitlich weit auseinanderliegenden punktuellen Ereignissen führt wiederum zu einer Beschleunigung des relativen Zeitempfindens hin zu einer stauenden Generalpause, aus der das angestaute Material (unterschiedliche Dauernlängen, schwer-leicht, elementare Laute, Repetition etc.) neu formiert werden kann für einen nächsten analogen Prozess.

In Schwebungen für Violoncello solo entwickelt sich aus einer anfänglich dissonanten Konstellation über feine mikrotonale Abstufungen eine äusserst reine Harmonik, die ihrerseits Ausgangspunkt einer gestisch/rhythmischen Progression wird. Dabei fallen die Verlaufskurven zusehends auseinander, es entspinnt sich ein quasi ellyptischer Tanz, in dem der jeweils gespanntere Aspekt in einen entspannteren zielt und umgekehrt. So ereignet sich die Formbildung aus fortgesetzten Fokussierungen, die Makroform ihrerseits zeichnet ebenfalls durch die Abnahme der Bewegungsintensität eine weitere analoge Verlaufskurve. So bewirken anfänglich harmonische Extremzonen ein fortgesetztes Kräftespiel zwischen Spannung und Entspannung, an dessen Ende eine Ahnung an das Wechselhafte des Anfangs zurückbleibt, gekippt in eine dauerhaftere und intensivierte Dimension.
Zum Partiturausschnitt: während sich die Einwürfe in ihrer Dauer zusehends verknappen und klanglich in den Vordergrund treten (pizz, gliss, Mehrklang), tritt das Spiel zwischen von Verstimmtheit und reinem Zweiklang ins Zentrum der Musik.